Amartya Sen, Die Idee der Gerechtigkeit

Buchbesprechung

Diesmal gehört die Aufmerksamkeit einem bereits 2010 auf deutsch erschienenen Titel, die Ausgabe von 2017 bei dtv hat inzwischen die 4. Auflage. Warum? Weil wir im Wandel, in der Konfrontation mit extremistischen Parolen, im Festhalten an eigenen Überzeugungen vom immensen Wissen und von der differenzierten Analyse des Autors profitieren.

Unser Standpunkt bestimmt unsere Sichtweise

Sen erläutert in einem Kapitel das Thema unterschiedlicher Sichtweisen (und den Begriff der objektiven Illusion) am Beispiel von Mond und Sonne. Erscheinen sie gleich groß? Manchmal. Das kommt auf den Standpunkt an. Ändert man diesen, können Mond und Sonne unter bestimmten Bedingungen allerdings trotzdem gleich groß erscheinen – oder auch nicht.

Der Standpunkt ist aber auch abhängig vom Umfeld. In meinen Worten: Wäre es in der Gesellschaft Usus, Mond und Sonne nur zu genau der Zeit und von dem Platz aus zu betrachten, wenn sie gleich groß erscheinen, könnte der verhinderte Perspektivwechsel neue objektive Eindrücke verhindern und Überzeugungen festigen. Wer zusätzlich daraus schließt, beide seien tatsächlich gleich groß, hätten die gleiche Masse und seien gleich weit entfernt vom Betrachter, geht die nächsten Schritte im fehlgeleiteten, vermeintlichen Wissen.

Perspektivwechsel

Mich haben besonders die Beispiele unterschiedlicher „Objektivitäten“ getriggert, von denen Sonne/Mond nur eines ist. Wie kommt es zu persönlichen Eindrücken, die statistische Relevanz entfalten? Wie kann man verhindern, diese Relevanz zu schnell für faktenbasiert zu halten und gleiche Ergebnisse unhinterfragt auf gleiche Ursachen zurückzuführen?

Neben den globalen Fragen von Kriegen und Konflikten, Umweltschutz und Klimathemen geht es bei der Übertrag der Lektüre, mir jedenfalls, auch um die persönliche Situation in unserer Gesellschaft. Wie sichern wir das Recht auf Bildung, Einkommen und Wohlstand? Wie sieht Diversität auf dem Dorf aus? Was ist gerechte Umverteilung? Können wir uns weniger Konsum überhaupt leisten? Ist es gerecht, pauschal Verzicht zu fordern? Welche Bedingungen haben die Kinder von heute, wenn sie erwachsen sind, und welche haben wir, wenn wir weitere zwanzig Jahre hinter uns haben?

Bei der Lektüre von „Die Idee der Gerechtigkeit“ wird mir Seite für Seite bewußt, was ich nicht wusste, was zusätzlich zu bedenken wäre und wo meine eigenen Grenzen der Vorstellungskraft einer besseren, partiell gerechteren Welt ziemlich manifest sind. Ich erfahre, wie es dazu kommen kann, dass jemand lieber sich selbst und die Anderen vernichtet, als zurückzustecken. Und ich werde neugierig darauf, welche Auswege sich aus von mir vermuteter Ausweglosigkeit vielleicht auftun.

Das ganze Buch lesen

Das Buch ist keine leichte Lesekost, steckt doch hinter jedem Satz eine Fülle von Verweisen, Abwägungen und kontroverser Diskussion. Aber die Frage, wie Gerechtigkeit entsteht, was sich darunter überhaupt verstehen lässt und wie sie befördert werden könnte, ist meiner Ansicht nach der Mühe wert.

Ihre Gudula Buzmann

 

Amartya Sen, Die Idee der Gerechtigkeit
Broschur
Verlag dtv
ISBN 978-3-423-34923-9

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