Helga Nowotny, Eigenzeit
Buchbesprechung
„Eigenzeit“ ist ein Longseller. Das Buch ist 1989 bei Suhrkamp erstmals erschienen, das Taschenbuch gibt es in der 4. Auflage. Wenn wir beim Lesen veraltete Technik-Begriffe gedanklich durch aktuelle Technik ersetzen, können wir einen Blick hinter die Kulissen der Entstehung unserer zeitlichen Strukturen werfen.
Von der Natur ins Labor und zurück
In der Physik verfeinern sich die Methoden zur Messung von Zeit immer mehr. Im Alltag nutzt es uns jedoch wenig, beispielsweise Details der Lichtgeschwindigkeit zu kennen. Dennoch werden wir von messbaren und gemessenen zeitlichen Prozessen beeinflusst. Technische Verfahren verlassen das Labor und gehen in Serie. Auf diese Weise wurde Licht überall verfügbar, können Maschinen im Dauerbetrieb laufen und verbreiten sich Nachrichten wie Börsenkurse in immer kürzerer Zeit rund um die Welt. Wir arbeiten in Schichten, sind ständig erreichbar und tragen selbst die Verantwortung des Abschaltens.
Mensch-Maschine-Normung
Die Diskrepanz zwischen Weltzeit und subjektiver Lokalszeit – die Welt dreht sich immer schneller und wir kommen nicht mit – begann vor über 100 Jahren. Kolonialisierung und zunehmende Internationalisierung bedingten, dass man sich nach der territorialen Ausdehnung auf gemeinsame Normen, Maße und Gewichte einigte und schließlich die Verfügungsgewalt über die Zeit folgte (bis hin zu 24/7), weil sich auf diese Weise grenzüberschreitender Handel besser gestalten lässt.
Die Verflechtung privater und öffentlicher Zeit geschah und geschieht auf vielen Ebenen. Industrielle Produktion gibt ebenso streng Zeiten vor (Arbeitstakt) wie an Aufmerksamkeitsspannen orientierte Infotainment-Schnipsel, mit denen auf breiter Ebene längeres Lesen oder Zuhören geradezu verlernt wird.
Vielleicht bietet Homeoffice daher für die einen die Möglichkeit, ein bisschen Zeitsouveränität zurückzugewinnen. Man spart die Fahrtzeiten zum Office, die, wie die Autorin schon damals schrieb, immer länger werden und die sozialen Kosten für jede Art von Mobilität erhöhen. Andere verbinden mit der Remote-Arbeit vielleicht zusätzlichen Stress, müssen sie damit doch auch noch den Arbeitsalltag selbst zeitlich strukturieren, wo es privat schon herausfordernd ist, alle Vorhaben in der verfügbaren Zeit umzusetzen.
Die Wirklichkeit erfinden
Und doch: „Zeit an sich ist nicht knapp. Der Eindruck der Zeitknappheit entsteht erst aus der Überforderung des Erlebens durch Erwartungen.“ (Niklas Luhmann, zitiert nach Nowotny, Eigenzeit, Seite 136). Der Stoßseufzer „Wenn ich erst mal Zeit habe ...“ lässt befürchten, dass Urlaub oder Rente genauso zeitknapp ausfallen könnten wie die Gegenwart. Helga Nowotny empfiehlt uns zum Schluss, häufiger wie spielende Kinder mit der Zeit umzugehen: Versunken im Augenblick dehnt sich die Zeit scheinbar endlos. Alles ist möglich.
Ihre Gudula Buzmann
Zum Weiterlesen: Teresa Bücker, Alle Zeit. Eine Frage von Macht und Freiheit. NDR-Sachbuchpreis 2023
Helga Nowotny, Eigenzeit.
Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls
Suhrkamp
Broschur
ISBN: 978-3-518-28652-4