Amartya Sen, Ökonomie für den Menschen
Buchbesprechung
Wie soll man handeln im Kontext gegenwärtiger Unübersichtlichkeit? Studien zu Folgen der Schulschließungen in der jüngsten Vergangenheit offenbaren unerwünschte Nebeneffekte und Unternehmen laufen auf Notbetrieb, weil zu viele Menschen doch wieder infiziert sind. Auch gebeutelte Branchen haben sich gerade erst wieder positioniert, da drohen Rückschläge durch steigende Energiekosten. Beim ersten Schiff, dass die Ukraine mit Getreide an Bord verlassen konnte, ist offen, ob die Ladung bei den Ländern mit besonderem Bedarf landet (Stand 08.08.2022).
Wirtschaft ist nicht linear
Amartya Sen ist Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften (1998), er bekam den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (2020) und sein Buch „Ökonomie für den Menschen“ (1999 in den USA, 2020 in Deutschland erschienen) erweitert den Blick im Umfeld komplexer Zusammenhänge.
Sein Ansatz ist es, „Entwicklung als Ausweitung substantieller Freiheiten aufzufassen, die die Menschen haben“. Im Vergleich unterschiedlicher Länder und auch einzelner Länder in unterschiedlichen Zeitabschnitten stellt er Ausgangspositionen, Absichten, Umsetzungswege und Ergebnisse dar. Sen geht scheinbaren Ursache-Wirkung-Automatismen auf den Grund und unterscheidet beispielsweise Hungersnöte aufgrund von Nahrungsmittelknappheit von Hungersnöten aufgrund von Verteilungsungerechtigkeit.
Eindrücke sind keine Wahrheit
Bei allen Themen (u.a. Entwicklung, Gerechtigkeit, Märkte, Demokratie, Kultur) beginnt Amartya Sen mit gängigen, uns allen aus den Medien bekannten Aussagen. Doch sofort fragt er „Ist das so?“ und erweitert anschließend durch immenses historisches Wissen, durch Fakten, Statistiken und Gegenüberstellungen unseren Horizont. Selbstverständlich hat er seine Ausführungen belegt (fast 60 Seiten Anmerkungen mit Quellenangaben). Die einzelnen Themen verzahnen sich, sodass man beim Lesen ahnt: Alle linearen Erklärungen, was wo zu tun oder zu lassen sei, können nicht zur Lösung eines akuten Problems beitragen, weil sie eindimensional sind.
Lektüre zum Langsamlesen
„Ökonomie für den Menschen“ ist kein Buch für nebenbei. Man muss langsam lesen, beim Lesen reflektieren und gegebenenfalls die Anmerkungen zu Rate ziehen. Es ist ein überaus aktuelles Buch, das zu Erkenntnissen führen wird, auch wenn Gaspreise, Coronafolgen im Bildungsbereich und blockierte Seewege für Getreide aus der Ukraine nicht explizit erwähnt werden. Eines der wichtigsten Bücher in meinen Regalen.
Ihre Gudula Buzmann
Amartya Sen, Ökonomie für den Menschen
Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft
Hanser Verlag
Gebunden
ISBN 978-3-446-26907-1